Bedrückendes Bild einer zerrütteten Welt
Stolberg. Am 18. Dezember 1902 wurde «Nachtasyl - Szenen aus der Tiefe in
vier Bildern» von Maxim Gorki im Moskauer Künstlertheater uraufgeführt.
Gut einen Monat später folgte die deutsche Erstaufführung. Am Mittwochabend
reihte sich die Oberstufen-Theater-AG des Goethe-Gymnasiums in die Gruppe
der Darsteller dieses Stückes ein, das auch 2003 nichts von ihrer Aktualität
eingebüßt hat.
Unter der Leitung von Schulleiterin Stefanie Luczak gelang den Schülern im
Pädagogischen Zentrum des Gymnasiums eine über weite Passagen ergreifende
Interpretation des Stückes.
Die Handlung: Im winterkalten Moskau vermietet das kaltherzige Ehepaar
Michail Iwanowitsch und Wassilissa Kostylew (Anna Steffens, Marie-Therese
Eschweiler) einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Landstreichern,
Dieben, ehemaligen Häftlingen und weiteren gescheiterten Existenzen einen
Schlafplatz.
Nicht mehr als zwei Quadratmeter auf dem Boden, wo sie ihre Glieder
ausstrecken und dem sonst sicheren Kältetod entrinnen können. Komfort und
Herzenswärme bietet die karge Bleibe nicht.
Die unterschiedlichsten Charaktere treffen hier aufeinander: Die junge
Nastja (Christine Frank), die sich ihr Leben mit Hilfe von Billigromanen
schöner träumt; ein Schauspieler (Jörg Kleis), der sich seines vergangenen
Ruhmes nur noch schwerlich erinnern kann, weil der Alkohol sein Gedächtnis
ruiniert hat; Bubnow (Malte Wirthmüller), der die Lügen und Flunkereien
seiner Schlafgenossen schonungslos aufdeckt und sie jeder Illusion beraubt;
Anna (Gyde Schubert), die schließlich elendig an Hunger und Krankheit
stirbt; der Schlosser Andrej Mitritsch Kleschtsch (Katharina Kolanowski),
der sich stets auf seine schlecht bezahlte Arbeit beruft und den anderen
ihre Würde abspricht sowie der Amateurphilosoph Satin (Volker Schaper), der
sich seinen Lebensunterhalt mit miesen Kartentricks verdient.
In weiteren Rollen spielen Medwedew (Patrick Kurz), der als Polizist nicht
für Ordnung sorgen kann und als Onkel der Wirtin Wassilissa und ihrer
Schwester Natascha (Susanne Wieners) selbst in die Geschichte verwickelt
ist, sowie seine Frau Kwaschnja (Mieke Schubert).
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Auf der Suche nach ein bisschen Wärme im kalten Moskauer Winter:
Die Oberstufenschüler der Theater AG am Goethe-Gymnasium sorgten
auf der Bühne für eine bedrückende Authentizität.
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Tragische Liebesgeschichte sorgt für zusätzliche Brisanz
Eine tragische Liebesgeschichte gibt «Nachtasyl» zusätzliche Brisanz: Waska
Pepel (Sven Liepertz), ein Dieb, hat sich in die mitfühlende Schwester der
Wirtin verliebt, doch die Ex-Geliebte Wassilissa rächt sich an ihrer
Schwester und schlägt sie, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet.
Der von Waska und Natascha gemeinsam gefasste Plan, dem elenden Leben durch
Flucht zu entkommen, scheitert, als Wassilissa gemeinsam mit ihrem Ehemann
ihrer Schwester die Beine verbrüht. Waska Pepel rastet aus und schlägt
Michail tot. Eine zentrale Rolle kommt während des ganzen Stückes dem Pilger
Luka (Andreas Wahlen) zu, der auf seinem Weg durch die Weiten Russlands in
der Herberge vorübergehend Gemach bezieht.
Für jede der gestrandeten Existenzen hält er eine Weisheit parat, öffnet den
hoffnungslosen Gestalten Perspektiven, von denen sie nie geglaubt hätten,
dass sie existieren. Auch wenn die meisten seiner hoffnungsfrohen
Geschichten geflunkert sind, vermag er doch dem Leben einen gewissen Sinn zu
geben.
Für Authentizität sorgte insbesondere auch die realitätsnahe
Bühnengestaltung und die Kostümierung der Darsteller: Leere Bier-, Wein- und
Wodkaflaschen, zerrissene Zeitungen, alte Decken, Kissen und Schlafsäcke
lagen wild verstreut auf dem Boden herum; die Schüler trugen zerrissene,
schäbige Kleidung und evozierten damit eine ärmlich, düstere Atmosphäre. Als
Souffleur trug Niklas Horcher Anteil am Gelingen des Stückes. Malte
Wirthmüller sorgte für das Layout.
Wer das Stück bei der Premiere nicht sehen konnte, hat dazu ein weiteres Mal
Gelegenheit: am Dienstag, 24. Juni, um 19.30 Uhr. Im Pädagogischen Zentrum
des Goethe-Gymnasiums wird «Nachtasyl» dann im Rahmen des 14.
Schüler-Theater-Festivals aufgeführt.
Aachener Zeitung Online, 05.06.2003