"Eine starke Strömung ist der Ansicht, allzu viel Bildung schadet
nur. Die Leute könnten ja wirklich kritisch werden." (Hildegard Hamm-Brücher)
Ein Kommentar von Jörg Kleis (Stufe 12)
Alle reden über Pisa, die angeblich vorher noch nie da gewesene Schwäche deutscher
Schüler und den - wie wurde es noch gleich genannt - "heilsamen Schock", den wir nun
alle erfahren und teilen.
Doch seien wir mal ehrlich: Wirklich gelesen hat doch keiner die Studie. Momentan regiert in
Deutschland in Sachen PISA anstelle von Substanz die bodenlose Trivialität und wohl eher
das Motto: Wer keine Ahnung hat, hat auch keine Meinung, sollte aber dennoch seinen
alltäglichen Senf dazugeben, denn im "Labern" sind wir schließlich Weltmeister.
Offensichtlich haben wir durch PISA nämlich auch die Erkenntnis über eine neue deutsche
Tugend erhalten: Das Talent, alle Probleme zu zerreden, die sich in den Weg stellen. So ist
man also nach Betrachtung des Scher benhaufens nicht hingegangen und hat die kleinen
Splitter weggekehrt und die großen aussortiert, sondern hat eher den nackten Zeh
ausgestreckt und ihn mitten im Haufen einmal schön eingedrückt. Konkret heißt das, dass
nach all dem "Rumgeheule" noch immer keine Lösungsansätze zu finden sind. Natürlich gibt
es kein Patentrezept, wie es so schön heißt, aber Worten sollten auch in Deutschland ab und
zu Taten folgen.
Fakt ist, dass das Ergebnis der Studie eine notwendige Konsequenz deutscher Schul-, Lern-
und Ausbildungskultur ist. Fakt ist auch, dass in Deutschland ein merkwürdig verzerrtes
Verhältnis zu Leistungsanforderungen existiert. Und Fakt ist, dass der Gedanke der
Chancengleichheit an deutschen Schulen missverstanden wurde.
Muss für die Schulen mehr (nicht vorhandenes) Geld im Bildungshaushalt für neue Lehrer
oder materielle Ausstattungen ausgegeben werden, sollte das "Sitzenbleiben" abgeschafft
werden, sollten Schüler halbjährig eingeschult werden, liegt es oder liegt es nicht an der
Ausbildung, Arbeitseinstellung oder Fachkompetenz der Lehrer, dass Deutschland immer
und immer mehr verblödet? Es wäre mit Sicherheit falsch, hier einer einzigen Gruppe die
Schuld in die Schuhe zu schieben, denn schließlich haben alle mit Glanz und Gloria ihren
Beitrag geleistet. Nur um einige Zahlen zu nennen, die man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen sollte: Es fallen wöchentlich in Deutschland 1 Million Unterrichtsstunden
aus, von denen 500.000 weggekürzt wurden. Hurra! Hier sind sicherlich die Länder Schuld,
welche durch ihre Politik die Bildungshaushalte zu oft als Steinbrüche benutzten.
Doch nun zum Schulsystem selbst: So hat sich die Reduzierung der Schulzeit auf 12 Jahre,
was in der EU in vielen Ländern (Benelux, Frankreich oder Großbritannien) bereits seit
Jahrzehnten Gang und Gebe ist, in den Bundesländern wie Bayern, Saarland oder Thüringen
durchgesetzt und als sinnvoll herausgestellt. Sitzen bleiben, 12-jähriges Abitur, halbjähriges
Einschulen hin oder her - es sollte klargestellt sein, dass solche "Konsequenzen" die Misere
allein aber nicht unterbinden, höchstens zu einer Richtungsänderung beitragen können. Das
Prinzip der Chancengleichheit wurde falsch umgesetzt, was an der Tatsache liegt, dass
"jahrelang mit dem Tempo des Langsamsten marschiert wurde", wie es BDI-Chef Hans-Olaf
Henkel bei Sabine Christiansen auf den Punkt brachte. Es ist nämlich nicht unbedingt das
Schulsystem, das krankt und uns PISA ofenfrisch serviert hat. Es ist die Mentalität der
Schüler, Lehrer und Eltern, derer, die dem System tagtäglich ausgesetzt sind.
Josef Kraus, seines Zeichens Präsident des deutschen Lehrerverbandes und ebenfalls zu Gast
bei Sabine Christiansen meinte über seinen Beruf und die aktuelle Situation, er ginge immer
noch davon aus, dass derjenige die Schüler am meisten mitreißen könne, der zu erkennen
gibt, dass er fachlich hoch kompetent ist und der vermitteln könne, dass er sein Fach liebt und
es sich lohne in diesem Fach Unterricht zu erhalten. WOW! Da soll mal einer kommen und
unsere Lehrmeisterfraktion kritisieren. Mit dieser von viel Applaus quittierten Äußerung
öffnete Kraus wohl nicht nur die Augen so manches resignierten Paukers (der es schon lange
aufgegeben hat, sein Fach zu lieben, hochkompetent zu erscheinen und die Schüler zu
interessieren), sondern brachte wohl auch den ein oder anderen zuschauenden Schüler zum
Schmunzeln. Zwar sei dahingestellt, wie viele Schüler sich tatsächlich durch den Lehrer
animiert fühlen, aber so steht wenigstens fest, dass das "Lehrertum" genauso sehr im PISA-
Boot sitzt. Kraus' spätere konkrete Forderung unter allen Umständen die Sprache mehr zu
fördern, regte genauso sehr zum Nachdenken an. So macht der Unterricht in der
Muttersprache in Deutschland durchschnittlich 16% des Stundenplanes aus. In Skandinavien
sind es bis zu 23%. Scheinbar haben die Deutschen der Übernahme ihrer Sprache durch
Englisch schon lange nichts mehr entgegenzusetzen. Dabei ist die Reduzierung der
Muttersprache und ihre Vermischung mit spielerischem Englisch sicherlich mit ein entschei-
dender Faktor, warum PISA uns jetzt so alt aussehen lässt. Schließlich kann man mit einem
Wortschatz von 500 Wörtern auch nicht allzu viel anfangen...
"Ich glaube, wir brauchen ein Klima von mehr Leistungsbereitschaft insgesamt in der
Gesellschaft und wir brauchen auch mehr das System des Wettbewerbes in der Bildung."
Was Industrieboss Henkel mit dieser Meinung als schlechten Klimazustand beschrieb, ist
fundamental die Quelle für den Scherbenhaufen. Es ist die Beziehung der Schüler zueinander
und zur Arbeit. Zu erfahren, wie man passende Einstellungen besitzen kann, ist von zu vielen
Schülern bisher noch nicht erschlossen worden. Während man in anderen Ländern dieser
Welt stolz darauf sein kann, Klassenbester zu sein, ist man in Deutschland ganz schlicht ein
Streber. Heutzutage gibt es andere Ideale in den Klassen und man will mit guten Noten
immer weniger etwas zu tun haben. Und diese Einstellung liegt ganz einfach an den Eltern,
die ihre Kinder durch mangelnde Vermittlung von Werten und Wettbewerbsbereitschaft in
ihrer Erziehung vernachlässigten, sich aber dann auf den Elternsprechtagen wundern, warum
ihr Kind doch keine 4 mehr bekommen hat. In allen Bundesländern muss dafür gesorgt
werden, dass die Anzahl der Noten nicht einer Gaußschen Normalverteilung in der Klasse
folgt, sondern einem absoluten Niveau - und so werden auch bessere Resultate erzielt. Denn
wie Hans-Olaf Henkel so schön gegen Ende der Sendung meinte: ,,Wettbewerbsfähig wird
unser Bildungssystem am aller ehesten durch was? Durch Wettbewerb!"
Schülerzeitung Goethes Faust, 1/2002