Interview mit Frau Luczak
Nach den Ereignissen von ‚PISA' und Erfurt brannte es der Redaktion auf den
Fingern, unsere Schulleiterin Stefanie Luczak zu den Geschehnissen zu befragen.
Dazu haben wir unsere Redakteure Sabine Drewes und Jörg Kleis losgeschickt.
Was waren Ihre ersten Gedanken und Empfindungen, als Sie die Auswertungen der
PISA-STUDIE erfahren haben?
Als erstes habe ich gedacht, dass man sich alles genauer angucken und hinter die
einzelnen Punkte, welche die Medien aufgegriffen und verflacht haben, schauen muss.
Vor allem aber habe ich intensiv über die Leseschwäche der deutschen Schüler
nachgedacht – nicht zuletzt wegen meiner Tätigkeit als Germanistin. Es gab auch eine
Konferenz an unserer Schule darüber, was die Konsequenzen speziell am Goethe sein
würden. Ein Ergebnis von vielen ist auch, dass es im Unterricht stärker darauf
ankommen sollte, Methoden und Herangehensweisen zu vermitteln. Dabei ist uns
auch der Aspekt aufgefallen, dass Schüler das Lernen lernen sollten. Und da gibt es
eine ganze Reihe an Konzepten um dies zu fördern. Oft – so ist mir persönlich im
Unterricht aufgefallen – ist es auch eine Sache der Unselbstständigkeit, dass nicht
richtig zugehört und darauf gehofft wird, dass die Lehrer es zum fünften Mal neu
erklären. Deshalb gibt es auch den Impuls, den ich aus PISA erhalten habe, dass man
viel stärker an der Selbstverantwortlichkeit der Schüler für ihr eigenes Lernen arbeiten
muss und nicht als Lehrerecho zur Verfügung steht.
Welche sind Ihrer Meinung nach die Schwachpunkte im deutschen
Bildungssystem?
Ein Schwachpunkt, den ich bereits angesprochen habe, ist das Berufsbeamtentum –
der zweite ist die mangelnde Flexibilität. Ich bin kein Bildungspolitiker, sondern
Bildungspraktiker, aber ich kann mit großer Gewissheit sagen, dass die Zeit, in der
Lehrer/innen Mangelware sind, bereits angefangen hat und dass man im Grunde den
Bedarf, den man hat, nicht klar genug berechnet hat. Die Prozesse in der Bildung
werden mir nicht wissenschaftlich genug begleitet. Man hat bei Statistiken sowohl zur
Schüleranzahl, als auch zur Lehreranzahl viele entscheidende Aspekte missachtet.
Früher hatten wir 20-30% Schüler/innen, die aufs Gymnasium gingen. Heutzutage
sind es zum Beispiel in Aachen bis zu 50%. Also kann man sich nicht einfach darauf
ausruhen, dass die Geburtenrate geringer ausfällt und wir uns deshalb nicht sorgen zu
brauchen. Wenn man eine Bildungspolitik für das Gymnasium plant, muss man solche
Faktoren berücksichtigen. Etwas anderes ist, dass der Bildungspolitik die Bildung
nichts wert ist. Sprich: es wird für Bildung nicht genug Geld ausgegeben. In Finnland
sind es 6,5% des Bruttosozialproduktes; bei uns sind es 4%. Auch die Relation
zwischen Sozialarbeitern und Psychologen zu der Anzahl von Schülern ist hier viel
schlechter als beispielsweise in Finnland. Auch ist es negativ, dass der Berufsstand
der Lehrer im Ausland eine hohe Anerkennung genießt und bei uns in der
Wertschätzung ganz weit unten rangiert.
Wie stehen Sie zu der Behauptung „Ein Abitur in Bayern ist mehr Wert als ein
Abitur in NRW"?
Diese Diskussion ist vollkommen absurd, weil sie auch von den eigentlichen Dingen
ablenkt. Ich kenne das Baden-Württembergische Bildungssystem, weil ich eine
Freundin habe, die dort unterrichtet. Und unser großer Vorteil im Gegenteil zu Baden-
Württemberg oder Bayern ist, dass Schüler hier stärker in der Lage sind, selbstständig
zu arbeiten. Aspekte wie Teamfähigkeit lassen sich nun mal nicht in Noten
festhalten. Dort ist das System stärker verschult. In der Oberstufe in Baden-
Württemberg müssen alle Schüler beispielsweise vier Stunden Mathematik, Deutsch
und eine Fremdsprache belegen, wodurch sie weniger Wahlmöglichkeiten haben. Es
kann nicht sein, dass man zu einer Form der „Paukschule" zurückkehrt, denn die
bringt uns nicht die Menschen, die wir - und die Zukunft brauchen. Wir brauchen
flexible, neugierige und aufgeschlossene Leute, die die Bereitschaft zum
kontinuierlichen Lernen haben.
Was halten sie von Eignungstests oder Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium?
Das Instrumentarium wie es bisher war, ist meiner Meinung nach ausreichend. Wir
haben zusammen mit den Grundschullehrern herausgefunden, dass sich die
Einschätzungen und Bewertungen auf beiden Seiten sehr stark decken. Und wenn die
Eltern so vernünftig wären, dem Urteil der Grundschullehrer/innen zu folgen und zu
vertrauen, wären wir bereits einen großen Schritt weiter. Eignungstests hängen zu sehr
von einer einzigen Tagesform bzw. den Nerven ab.
Wie sieht für Sie ein ideal geführter Unterricht aus?
Ein für mich idealer Unterricht wäre, wenn Schüler immer stärker die Verantwortung
für das eigene Lernen übernähmen, und dass der Unterricht von einem Klima getragen
würde, in dem Schüler/innen in Kooperation mit den Lehrer/innen an der Lösung von
Problemen arbeiten und der Lehrer mit Hilfe von Erfahrens- und Wissensvorsprung
moderiert und leitet. Die Rolle der Lehrer ist es deshalb, das selbsttätige Lernen zu
fördern. Ich bin auch dafür – selbst wenn man es nicht gerne hört – dass in der Klasse
ein Klima herrscht, in dem es sich lernen lässt, dass eine gewisse Disziplin besteht
und dass ich diejenigen, die lernen wollen, vor denen schütze, die sich in der Schule
eher einen tollen Tag machen wollen.
Was geht einem durch den Kopf, wenn man die erschreckenden Bilder von Erfurt
im sieht – besonders unter dem Blickpunkt für 900 Schüler mitverantwortlich zu
sein?
Die erste Reaktion ist Panik, weil man sich darüber im Klaren sein muss, dass dieses
Ereignis jederzeit an jedem Ort wieder passieren kann. Es wurde gesagt, dass Erfurt
ein Einzelfall und eine Extremsituation war, aber wer kann mir beweisen, dass dem
wirklich so ist? Wer sagt mir, dass nicht morgen solch ein Einzelfall in Stolberg
geschieht? Dann kommt natürlich der nächste Gedanke, dass dies aber genauso gut
passieren könnte, wenn ich ins Auto steige und auf die Autobahn fahre, wo
Jugendliche Pflastersteine von einer Brücke werfen und ich einfach zur falschen Zeit
am falschen Ort bin. Das ganze Leben ist ein Risiko. Das kann einem dabei helfen, die
Dinge gerade zu rücken. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Mensch in hoher Not
war, und wir bemühen uns mit Kolleginnen und Kollegen an dieser Schule, jeden
einzelnen Schüler in seinen Bedürfnissen wahrzunehmen. Vor Verzweiflung und
psychischem Ausnahmezustand ist man nicht gefeit.
Inwiefern bewerten Sie das Schüler-Lehrer Verhältnis als Auslöser für den
Amoklauf in Erfurt?
So wie ich das mitbekommen habe, ist der Konflikt für den Schüler von Erfurt
hausgemacht und der Erwartungsdruck von Seiten der Lehrer und Eltern zu groß
gewesen. Es gibt solche Schüler, die ihre eigenen Anteile an Konflikten mit Lehrern
nicht wahrnehmen wollen. Denn schließlich ist es einfacher, als Schüler eine
Projektion vorzunehmen, als sich an die eigene Nase zu fassen. Die Lehrer werden als
Projektionsfläche gesehen. Man muss klarmachen, dass es bei der Notenverteilung
beispielsweise um die Sache geht und nicht um persönliche Verhältnisse.
Wie, glauben Sie, schätzen Schüler am Goethe ihr Verhältnis zu den Lehrern ein?
Man kann solche Dinge nicht pauschalisieren und ich habe mitbekommen, dass sich
viele Schüler ein intensiveres Verhältnis zu den Lehrern wünschen und sie lieber
als „Menschen" und nicht so sehr als Wissensvermittler sehen würden. In der
Oberstufe ist das sicherlich so – in der Mittelstufe gibt es da ein Defizit. Aber dieses
Problem haben wir erkannt. Wir haben Jahrgangsstufenteams und einen
Mittelstufenkoordinator eingeführt, die über all dies reden und entsprechende
Maßnahmen ergreifen. So sahen wir es als notwendig an, sogenannte Projekttage
einzuführen und die Skifahrt weiterhin durchzuführen, um den Schülern die
Möglichkeit zu geben, mit Lehrern auf einer anderen Ebene zu verkehren. Die
Mittelstufe ist eben die schwierigste Phase. Leider sind wir dadurch, dass wir eine
wachsende Schule sind, durch unsere Lehrerversorgung eingeschränkt in den
Möglichkeiten, z. B. Orientierungsstunden oder Klassenleiterstunden einzurichten.
Zwischen der Wahl, den Unterricht zu kürzen oder dem Klassenlehrer eine weitere
Stunde mit seiner Klasse zu geben, habe ich mich für den Unterricht entschieden. Man
ist da hin- und hergerissen zwischen dem, was pädagogisch sinnvoller wäre, und auf
der anderen Seite den berechtigten Forderungen der Eltern auf ungekürzten Unterricht
näher zu kommen.
Viele Schüler bemängeln die Uninformiertheit an der Schule, dass man nicht genug
von Beschlüssen unterrichtet wird und mitwirken kann. Inwiefern hat sich das
geändert?
Wir sind für jeden Vorschlag von Seiten der Schüler dankbar. Wir machen
Drogenberatungsabende, auch zu Computerspielen gab es einen, um die Nachfrage
nach Informationen durch Schüler und Eltern zu decken. Aber da, muss ich sagen,
schließt sich der Kreis, weil von den Lehrern zu viel verlangt wird. Warum gehen
Schüler nicht mal hin, setzen sich zusammen, identifizieren die
verbesserungswürdigen Gebiete und arbeiten an Vorschlägen? Wir haben so viele
AGs, aber kein Schüler bietet eine an. Ich finde das ganz schade. Gerade die Anfrage
bei den jüngeren Schülern ist sehr hoch.
Haben Sie so etwas wie einen Appell für die Schüler?
Ich finde die Schule ist ein Lebensraum für Schüler und Lehrer zusammen. Jedoch
könnten sich die Schüler stärker engagieren in der Gestaltung dieses Lebensraumes.
Und es sollten einfach auch mehr Jungen sich dabei angesprochen fühlen. Wir waren
kurz davor, eine Jungenfördergruppe zu gründen, weil wir uns die Frage nach der
geringen Anteilnahme der Jungen gestellt haben.
Haben Sie sich auf Grund von PISA und / oder Erfurt eigene Ziele für die Zukunft
gesetzt?
Eins meiner Ziele ist das bevorstehende Jubiläum des Goethe-Gymnasiums, das 2004
stolze 150 Jahre alt wird. Zu diesem Anlass soll neben einer Jubiläumsfeier eine
Projektwoche stattfinden, bei der sowohl Schüler als auch Lehrer und Eltern
einbezogen und zur Mitarbeit aufgefordert werden.
Schülerzeitung Goethes Faust, 1/2002