Nicht in Reformen verzetteln
Peter Silbernagel, neuer Landesvorsitzender des Philologen-Verbandes, setzt auf Dialog
Wäre es ein politisches Amt, so könnte man dem neuen Landeschef des Philologen-Verbandes eine konsequente
Karriere bescheinigen, denn Peter Silbernagel hat sich schon seit Beginn seiner Lehrer-Laufbahn für diese
Organisation und seine Kollegen an Gymnasien eingesetzt. Doch der Pädagoge hängt viel zu sehr an seinem
Beruf, als dass er sich einen Fulltime-Job fern dem heimischen Goethe-Gymnasiums vorstellen möchte. Über
seine Herausforderungen und Ziele im Jahr eins nach der "Pisa"-Studie sprach der 49-jährige mit AZ-Redakteur
Hanns Bittmann.
Was reizt einen ohnehin stärk belasteten Lehrer, sich auch noch ein solches Ehrenamt über den Hals zu
ziehen?
Silbernagel: Die Gestaltungsmöglichkeit im bildungs- und berufspolitischen Bereich. Mitgestalten und auch
korrigieren zu dürfen, wo es notwendig ist, reizt mich.
Werden die Möglichkeiten zur Mitgestaltung nicht immer mehr von oben beschnitten?
Silbernagel: Einige Bildungspolitiker haben inzwischen gelernt, dass es vernünftig ist, Gespräche zu führen,
bevor Maßnahmen umgesetzt werden. Um weiterzukommen, sind ein Austausch und vertretbare Kompromisse
der einzig vernünftige Stil - auch von unserer Seite. Bei allem kämpferischen Engagement gibt es zum Dialog
keine Alternative, denn Schulpolitik kann man nur mit den Lehrerinnen und Lehrern machen, nie gegen sie.
Manche Eltern werden jetzt sagen: Gut, wir kennen die Diskussionen mit Schulministerin Behler, aber
letztlich spüren wir in den Schulen nicht viele Verbesserungen - begonnen beim Lehrermangel. Sehen Sie
das anders?
Silbernagel Nein. Ich sehe zwar, dass das Land Nordrhein-Westfalen auf dem Gebiet der Einstellungspolitik
einiges tut. Aber einiges zu tun, ist noch nicht genug; das lehren uns auch die Ergebnisse von "Pisa". Wir liegen
unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten und müssen in Deutschland dringend nachlegen. Bildung, Erziehung
und Ausbildung müssen uns einfach so viel wert sein, dass wir auch mehr finanzielle Ressourcen dafür frei-
schaufeln. Wir müssen der Bildung höhere Priorität einräumen, als das in vielen Sonntagsreden geschieht.
Haben Sie nicht den Eindruck, dass nach dem ersten Wirbel um Pisa jetzt diverse Schulen langsam wieder in
Schlaf fallen?
Silbernagel: Das ist wahrscheinlich nur ein äußerer Eindruck. Die Notwendigkeit, etwas zu tun, ist an vielen
Stellen allein deshalb erkannt, weil uns Mitte des Jahres eine nationale Pisa-Studie ins Haus steht und bereits im
Jahr 2003 der zweite große Teil von Pisa begegnen wird. Es gibt eine ganze Reihe von Foren, in denen sich die
Verantwortlichen treffen und wo man konkret überlegt: Was sind die nächsten Schritte, was ist machbar und
auch in einem überschaubaren Zeitrahmen umsetzbar?
Welche Ziele setzt Ihr Verband?
Silbernagel Pisa ist zunächst einmal die Gelegenheit, Schulpolitik auf eine breitere Basis zu stellen -
grundsätzlich einmal die Verantwortlichkeit für Schule, Bildung und Leistung zu diskutieren. Und zwar nicht
nur mit den Betroffenen, sondern mit Medien, Vertretern von Handwerk und Wirtschaft. Fragen sollten dabei
sein: Was muss Schule leisten, und was hat man ihr in der Vergangenheit zugemutet, ohne dass Schule das
allein leisten konnte? Wenn man sich bewusst ist, dass die desaströsen Ergebnisse von Pisa eine Her-
ausforderung sind, dann muss jeder seinen Beitrag leisten.
Wo sollten die Prioritäten liegen?
Silbernagel Zunächst im organisatorischen Bereich der Vorschule:
Schon der Kindergarten kann nicht mehr so strukturiert bleiben wie bisher, er muss zumindest im letzten Jahr
stärker eine Vorbereitung auf die Grundschule sein. Die Grundschule muss ganz besonderen Wert auf Lese-
Kompetenz legen. Der weiterführende Bereich muss mehr fördern als bisher - zum Beispiel
Leistungsschwächere, auch Versetzungsgefährdete, und Migranten-Kinder -, aber auch die Kinder mehr fordern,
die leistungsstärker sind. Konkrete Maßnahmen betreffen dann ebenso die Lehrerausbildung.
Woran fehlt es dort?
Silbernagel Die Lehrer müssen in der Diagnose-Fähigkeit gestärkt werden, um frühzeitig lernschwächere
Kinder zu erkennen und Methoden erfahren, die Schüler viel stärker einbinden als bisher. Denn die Qualität des
Unterrichts ist. schon ein Schlüssel, um die Ergebnisse zu verbessern. Nur kann man jetzt in den Schulen nicht
einfach Arbeit draufsatteln, sondern muss auch in der Diskussion deutlich betonen: Wir konzentrieren uns auf
das Wesentliche, und das ist der Unterricht. Dann bekommen die Lehrer die Möglichkeit, Zeit-Ressourcen
hierfür zu nutzen und sich nicht in allen möglichen Reform-Maßnahmen zu verzetteln.
Bleibt bei der Verlagerung vieler gesellschaftlicher Aufgaben in die Schule überhaupt Raum für eine neue Art
von Unterricht?
Silbernagel: Die Vergangenheit hat gezeigt; dass die Gesellschaft immer größere Erwartungen an die Schule
stellt, dass aber eine Entlastungsbereitschaft gegenüber denen, die Schule gestalten, nicht gleichermaßen
vorhanden war. Drogenvorbeugung, Aidsprophylaxe, Friedenserziehung, Gewaltprävention, Werterziehung
kann Schule allein gar nicht leisten. Es müssen viele mit anpacken, mehr als bisher - und Schule muss sich auf
das konzentrieren, was ihre ureigenste Aufgäbe ist: ein solide Ausbildung und Erziehung, so dass die jungen
Menschen eine faire Chance haben, ihr Leben zu bewältigen.
Für was fehlt bei diesem Konzentrieren der Platz?
Silbernagel Man muss den Mut haben zu sagen: Wir können nicht jedes Schulprogramm in allen
Verästelungen weiterentfalten, nicht jedes Vorhaben über selbstständige Schule mittragen.
Sind viele Ihrer Kollegen nicht schon zu frustriert?
Silbernagel Die Ernüchterung ist sicher recht groß, weil die Arbeitsbelastung in den letzten Jahren ständig
zugenommen hat. Viele nehmen der Politik nicht mehr ab, überhaupt glaubwürdige Konzepte für Schule
vorstellen zu können. Aber die Bereitschaft, sich auf die Forderungen von Pisa einzulassen, ist da.
Warum ist der Unterricht nicht gut genug, um Schülern das nötige Wissen zu vermitteln?
Silbernagel: Der Unterricht ist nicht schlecht. Aber von den Lehrern werden zu viele außerunterrichtliche
Aktivitäten verlangt. Da muss wirklich das eine oder andere zurückgestellt werden, auch zum Beispiel bei den
Verwaltungsaufgaben.
Und stattdessen mancher Praxis-Bezug mehr in den Unterricht kommen?
Silbernagel Grundsätzlich sollten die Schüler schon das Gefühl haben, dass das, was sie machen nicht
lebensfern ist. Das heisst nicht, dass alle Unterrichtsinhalte automatisch einen ganz konkreten Handlungsbezug
haben müssen. Aber es ist unbestritten, dass mehr als bisher die Unterrichtsinhalte stärkeren Anwendungsbezug
besitzen sollten.
Sollten sich die Schulen dabei mehr spezialisieren?
Silbernagel Die "Profilbildung" an den Gymnasien und auch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht
Jahre sind heikle Themen. Bei deren Entwicklung sind die Schulen derzeit zu sehr auf sich selbst gestellt. Die
Politik muss den Mut haben, das eine oder andere auf der Zeitschiene zu lassen.
Bei einigen Neuerungen wie dem Modell "Selbstständige Schule" stößt das Land im Raum Aachen jetzt
schon auf große Zurückhaltung ...
Silbernagel Dem Konzept der selbstständigen Schule stehe ich sehr skeptisch gegenüber. Denn
Selbstständigkeit im Bereich der Unterrichtsgestaltung und -organisation haben die Schulen schon. Derzeit
steckt hinter dem Projekt im Wesentlichen nur eine Verschiebung von Verantwortlichkeit: für Einstellungen,
den Umgang mit Sachmitteln, bauliche Maßnahmen. Ich habe das Gefühl, dass die Lehrer hier mit Aufgaben
konfrontiert werden, die nicht wesentliche Aufgabe von Schule sind. Sie entlasten gegebenenfalls die
Kommunen, mit Sicherheit die Schulaufsicht und in besonderer Weise die schulpolitisch Verantwortlichen.
Wenn es aber nur eine Scheinfreiheit ergibt, dann sollte man dieses Projekt nur sehr zögerlich annehmen und
höchstens das herauspicken, was vernünftig ist.
Bei all diesem Schulwirrwarr: Würden Sie heute noch einmal Lehrer werden?
Silbernagel Ganz klar: Ja! Die Möglichkeit, mit jungen Menschen umzugehen, Erfahrungen und Hilfen
zur Gestaltung und Bewältigung des Lebens geben zu können, ist reizvoll und schön. Bei allen schulpolitischen
Problemen hat der Beruf des Lehrers diesen Charme für mich nie verloren. Und ich kann auch junge Menschen
nur ermuntern, ernsthaft darüber nachzudenken, diesen Beruf zu ergreifen. Es gibt kaum einen schöneren. Das
kann auch die Politik durch Reform-Aktionismus nicht unterlaufen.
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Peter Silbernagel, geboren am 17. August 1952 in Eschweiler, verheiratet, vier Kinder, Oberstudienrat für
Mathematik und katholische Religionslehre am Stolberger Goethe-Gymnasium, stellvertretender Vorsitzender
des Philologen-Verbandes Aachen. 1981 bis 2002 Mitglied des Personalrates für Lehrer an Gymnasien beim RP
Köln, seit Anfang des Jahres stellvertretender Vorsitzender des Hauptpersonalrates in Düsseldorf; Mitglied des
geschäftsführenden Vorstandes im Philologen-Verband NRW seit 1984, seit wenigen Tagen als Vorsitzender.
Peter Silbernagel: "Alle am Schulleben Beteiligten müssen sich ohne Scheuklappen zusammensetzen."
Foto: Wolfgang Plitzner (Aachener Zeitung)
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Der AZ-Fragebogen:
Worüber können Sie (Tränen) lachen?
Uber Blödeleien von Freunden und Situationskomik unserer Kinder.
Was macht Sie wütend?
Egoismus und Unehrlichkeit.
Was ertragen Sie nur mit Humor?
Schulpolitischen Reformaktionismus
Ihr wichtigster Charakterzug?
Optimismus und Zuverlässigkeit.
Ihre liebsten Roman- und Filmhelden?
Stiller.(M. Frisch), Kurt Wallander (H. Mankell) - Paul Newman (Der
Unbeugsame), Robert De Niro (Es war einmal in Amerika).
Wofür sind Sie dankbar?
Für Familie, Freunde, Gesundheit und vieles, vieles mehr.
Mit welchem Prominenten würden Sie gerne einmal essen gehen?
Kofi Annan.
Was würden Sie sich niemals trauen?
Bungee-Jumping.
Wen hätten Sie gerne kennen gelernt?
Jesus.
Wo und wie urlauben Sie am liebsten?
Auf Studienreisen, um andere Kulturen und Menschen kennen zu lernen, und auf Erholungsreisen, um viele
Bücher zu lesen.
Welcher Ort in Aachen lädt Sie zum Träumen ein?
Der Marktplatz im Sommer mit seinen Korbstühlen und Cafes und das Pontviertel mit den etwas "alternativen"
Kneipen.
Welche lokale Persönlichkeit beeindruckt Sie besonders?
(Der verstorbene) Dr. Erich Stephany.
Was würden Sie zuerst ändern, wenn Sie einen Tag lang in Aachen das Sagen hätten?
Alle Schulen optimal ausstatten und dazu "Grüne Welle" schaffen.
Wie würden Sie die Aachener charakterisieren?
Menschen mit Herz; unkompliziert, humorvoll, europäisch.
Aachener Zeitung, 23.03.02