Die Wahrheit über Mathe
Was man in der Schule nie erfährt!
"Mathematik? Um Gottes Willen! Das habe ich schon in der Schule nicht verstanden." Mein
Gegenüber läßt langsam aber bestimmt den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche
nach einem neuen Gesprächspartner. Dabei habe ich nicht einmal damit angefangen, schließlich
wurde ich ja gefragt, was ich studiere.
Nun gibt es noch ein paar andere mögliche Reaktionen auf das Bekenntnis: "Ich studiere
Mathematik!". Zum einen gibt es da den völlig sprachlosen Menschen, der sich sofort in
Sicherheit zu bringen versucht. Zum anderen antwortet meist der etwas ältere und höfliche
Mensch mit (vielleicht gespielter) Bewunderung: "Oh, das ist sicher sehr schwierig." Daneben
wird man auch sehr häufig mit einer weitergehenden Frage außer Gefecht gesetzt, z.B. mit
"Was gibt es denn überhaupt noch auszurechnen?" oder "Was willst du denn später einmal
damit machen?" In den meisten Fällen ist jedenfalls das Gespräch recht schnell beendet,
zumindest wird das Thema gewechselt, um die drohende Gefahr abzuwenden; war man doch
froh, die lästigen Mathe-Aufgaben nach der Schule ein für allemal losgeworden zu sein.
Das, was man in der Schule unter Mathematik versteht, hat mit dem, was man im Studium
macht, allerdings nicht mehr sehr viel zu tun. In der mathematischen Forschung an der
Universität (ich rede jetzt von dem, was die Professoren bzw. Doktoranden und Assistenten
tun) geht es in erster Linie nicht um praktische Anwendungen der Mathematik, sondern es wird
Mathematik um ihrer selbst Willen betrieben, aus rein wissenschaftlichem Interesse. Wie hat
man sich das vorzustellen? Nun, es gibt sehr viele verschiedene Teilbereiche der Mathematik,
die zum Teil fast nichts miteinander zu tun haben. Hier betrachtet man irgendwelche
mathematischen Strukturen und Objekte. Diese werden durch Definitionen festgelegt. Wem
das interessant erscheint, versucht möglichst viel über deren Eigenschaften, Struktur und
Verhalten herauszufinden, und das natürlich alles streng logisch und nur auf dem beruhend,
was man schon als richtig und bewiesen erkannt hat. Das Stichwort Beweis ist hier sehr
wichtig. Denn ein Mathematiker glaubt niemandem etwas, wenn dieser es ihm nicht beweisen
kann. (Jedenfalls in Bezug auf die Mathematik.) Die Ergebnisse dieser Forschung sind
Erkenntnisse über obige Objekte, die den Anspruch erheben (zumindest nach dem, was wir
unter Logik verstehen) absolut richtig zu sein. Schließlich ist ja alles bewiesen, was als
Erkenntnis festgehalten wird. Alles andere sind nur Vermutungen, bis sie irgend jemand
beweisen oder widerlegen kann.
Das Studium soll einen nun dazu befähigen, sich an der Forschung beteiligen zu können. Das
beinhaltet, daß man recht viele Teilbereiche der Mathematik kennenlernt und daß man lernt,
streng logisch zu argumentieren, effizient, genau und nach strengen Regeln zu arbeiten und vor
allem alles, was man behauptet zu begründen und zu beweisen. Die Schule bereitet einen
darauf ziemlich schlecht bis überhaupt nicht vor (so zumindest meine Erfahrungen und die
vieler Mitstudenten). Ich wußte nicht, worum es eigentlich geht, und viele selbstverständliche
Grundbegriffe waren mir überhaupt nicht klar. Es wäre schön gewesen, wenn mir jemand ein
paar grundlegende Prinzipien erklärt hätte.
Das Prinzip des mathematischen Beweises z.B. kommt in der Schule viel zu kurz. Und das ist
schon das erste Problem, das die meisten Studenten zu Beginn ihres Studiums haben. Von
Anfang an wird verlangt, daß sie jede Aufgabenlösung vollständig begründen und rechtfertigen
können. Sie müssen erst einmal lernen, in ihrem Denken jede Kleinigkeit zu berücksichtigen
und nur zulässige und richtige Dinge zu tun. Dabei kommt es auch darauf an, Strategien zu
entwickeln und sich Lösungswege selbständig zu erarbeiten. Wenn man gerade von der Schule
kommt, kann man das alles in der Regel nicht, weil man es noch nie so richtig tun mußte und
deswegen auch nicht getan hat. Aber keine Angst, man kann alles lernen.
Allerdings hat das auch seinen Preis. Das Mathe-Studium zählt sicherlich nicht zu den
einfachsten Studiengängen und was ich jedem prophezeien kann, der damit anfängt, ist jede
Menge Arbeit. Und wenn ich jede Menge sage, dann meine ich das auch. Schon im
Grundstudium wird man überhäuft mit abzugebenden Übungsblättern und Klausuren. In Mathe
ist es im Gegensatz zu anderen Fächern auch sehr ratsam, die Vorlesungen zu besuchen und
diese nachzuarbeiten, denn andernfalls hat man nicht wirklich eine Chance. Wie auch schon in
der Schule bekannt sein sollte, lernt man Mathematik nur durch viel, viel Übung. Und um
Übung zu bekommen, muß man eben viel tun. Weil der Übergang von der Schule zur Uni ein
ziemlicher Hammer ist, den man auf keinen Fall unterschätzen sollte, kommt am Anfang des
Studiums unweigerlich die große Frustrationsphase, und ich sollte nicht verschweigen, daß
viele recht früh schon wieder aufhören. Aber wenn man jetzt durchhält, genügend Motivation
besitzt und die Anfangsschwierigkeiten überwindet, schafft man es.
Man ist ja schließlich nicht allein mit seinen Problemen. Erstens sind da noch viele andere, die
genau die gleichen Schwierigkeiten haben, und zweitens wird man in der Mathematik sehr gut
betreut. Es gibt wirklich nur selten arrogante Professoren. Zumindest in Aachen sind die
meisten Mathe-Professoren ziemlich nett, beantworten nach der Vorlesung bereitwillig Fragen
der Studenten und erklären das Problem aus der Vorlesung auch noch zum zehnten Mal. An
den Mathematik-Lehrstühlen findet man immer jemanden, der Fragen beantworten und
weiterhelfen kann, im Zweifelsfall geht man einfach zum Professor selbst. Und dann gibt es ja
auch noch die älteren Studenten.
Im Grundstudium ist noch ziemlich genau festgelegt, welche Vorlesungen man besuchen muß.
Es bleibt nicht viel für eigene Entscheidungen. Die Vorlesungen sind, mit einigen Ausnahmen,
keine Riesenveranstaltungen wie bei den Maschinenbauern oder E-Technikern. Spätestens nach
dem Grundstudium (so im 5. Semester) finden die Vorlesungen dann meistens in sehr
überschaubaren Gruppen statt, man kennt sich persönlich, hat eine dementsprechend gute
Betreuung, und es herrscht sehr angenehme Atmosphäre. Im Gegensatz zum Grundstudium
wird im Hauptstudium nur noch sehr wenig vorgeschrieben. Man hat sehr viel Freiheit,
diejenigen Vorlesungen zu hören, die einen auch interessieren. Ganz besonders angenehm ist,
daß es nun fast keine Klausuren mehr gibt. Das ist nicht nur schön, weil man nun weniger
einem ständigen Prüfungsdruck ausgesetzt ist, sondern auch, weil man mehr Zeit hat, sich aus
eigenem Antrieb mit bestimmten Dingen intensiver auseinanderzusetzen. Das was man nun
gegen Ende des Studiums macht, geht zum Teil schon in Richtung Forschung.
Am Schluß kann ich nur jedem raten, Mathe zu studieren. Warum? Das kann am besten ein
bedeutender Mathematiker beantworten:
Die mathematische Analyse erstreckt sich ebenso weit wie die Natur selbst; sie definiert alle
wahrnehmbaren Beziehungen, mißt die Zeiten, Räume, Kräfte, Temperaturen. Diese
schwierige Wissenschaft entwickelt sich langsam, aber sie bewahrt alle Prinzipien, die sie
einmal errungen hat; sie wächst und befestigt sich unablässig inmitten aller Irrungen und
Fehler des menschlichen Geistes.
Ihre hervorstechende Eigenschaft ist die Klarheit; sie hat keinerlei Zeichen, um verworrene
Begriffe auszudrücken. Sie setzt die allerverschiedensten Phänomene zueinander in Beziehung
und deckt die verborgenen Analogien auf, die sie verbinden... Sie scheint eine Fähigkeit des
menschlichen Geistes zu sein, die dazu bestimmt ist, einen Ausgleich zu bieten für die Kürze
des Lebens und die Unvollkommenheit der Sinne.
Jean Baptiste Fourier (1768 - 1830)
Falls jemand mehr wissen möchte oder noch Fragen hat, kann er mir gerne eine Mail schicken
an Michael.Naehrig@post.rwth-aachen.de.
Michael Naehrig (Abi 1996>